Sandra Ananda, Weihnachtsmärchen 2023
geistig übermittelt von Melissa officinalis
Das Märchen der Melissa am glitzernden Fluss der Ewigkeit
Es war einmal und es war auch nicht ein einzelnes Haus an einem Wald mit wilden und bestellten Ländereien gleich vor der Türe. Am Haus vorbei schlängelte sich ein gar zauberhafter Fluss, von dem niemand wusste, wo er entsprang und wie weit er floss. Hier lebte ein junges Mädchen mit ihrer Mutter und einem kleinen Hündchen. Das Leben war leicht und voller Herzensfülle und das liebste, was das Mädchen mit dem Namen Melissa tat, war täglich zum Fluss zu rennen und mit ihrem Hündchen dem Fluss nachzujagen. Sie spielten am Ufer, tobten in den anliegenden Feldern zu toben und schließlich beobachtete das Mädchen einfach nur das Glitzern des Wasser. Es war ganz wundersam, doch in jedem Funkeln und Spiegeln des Wassers schient es, als könnten sie ein Stück der ganzen Welt sehen.
Die Jahre vergingen und aus dem jungen Mädchen wurde eine junge Frau. Dem Hündchen derweil sah man keinen weiteren Tag des Alterns an. Es spielte so wild wie eh und je und kein graues Haar konnte sich finden. Tag ein Tag aus verbrachte die Mutter im Haus. Sie ging nicht mehr hinaus und die Geschichten der Welt trug täglich ihre Tochter nach Hause. Es begann, dass sich die Geschichten veränderten, erst nur wenig merklich, dann immer mehr. Sie klangen nicht mehr so leicht und schön wie einst. Denn Melissa begann am Horizont, weit über den Feldern hinweg, Dunkelheit aufziehen zu sehen. Schließlich berichtete sie jeden Tag, wie die Dunkelheit näher und näher kam.
Mit der Zeit kam sie so nah, dass sie darin Formen sehen konnte: Hohe schlanke quadratische Häuser waren dort zu sehen. Sie sahen so anders aus, als ihr uriges Haus mit spitzem Giebel und rot gebackenen Dachziegeln. Statt erdigem Putz blitzten spiegelnde Hauswände aus der Ferne. Mit jedem Tag zeigten sich mehr Einzelheiten, zeigten sich Straßen und Ampeln. Und es wurde immer lauter. Melissa konnte den Dunst der herannahenden Stadt erblicken, doch noch hatte die Ausbreitung der Stadt nicht ihre Felder erreicht.
Bis dies eines Tages doch geschah, sich der Schatten der hohen Häuser über ihre Heimstätte warf und sie sich in Angst und Schrecken dahinter verbarg. Da sah sie ihr Hündchen, welches ungebrochen in seiner Leichtigkeit zum noch immer in der Sonne glitzernden Fluss rannte. Es tollte am Ufer entlang, als wäre es ein Tag wie eh und je. Schon lange konnte Melissa die Freude nicht mehr gänzlich teilen, auch wenn sie jeden Tag zum Fluss ging. Heute war der Tag, an dem sie sich gar nicht mehr für diese Freude öffnen konnte und da sah sie, wie ihr Hündchen ganz in Freude des Spielens versunken, in die Dunkelheit sprang und darin verschwand.
Da erschrak die junge Frau noch mehr und fasste einen Entschluss. Sie rannte ins Haus, in dem ihre Mutter ihrem Leben nachging wie auch schon vor Jahren, schnappte sich einen Wanderstab und band sich ein Band um die Stirn. So verabschiedete sie sich von der Mutter und eilte zum Fluss, denn entlang diesem tollte ihr Hündchen wahrscheinlich immer noch. Barfüßig, wie sie ihr ganzes Leben schon ging, stieg sie in den Fluss und folgte seiner Bewegung und folgte ihm auch noch, als sich der Schatten über sie legte und sie in eine andere Welt tauchte.
barfüßig, wie sie ihr ganzes Leben schon ging…
Mit einem Mal erblickte sie die Stadt links und rechts des Fluss in einer Klarheit, die sie bisher nur erahnen konnte. Hier soll ihr Hündchen spielen? Die geschäftigen Straßen mit den vielen Leuten und Lichtern, den lärmenden Autos und dem Gewusel schienen kein spielfreundlicher Raum zu sein. Ihre Schritte gingen zielstrebig im Fluss voran und ihr Blick suchte die Uferränder ab, die nahtlos zu gepflasterten und asphaltierten Wegen wurden. Es schien aussichtslos – nein, ihr Hündchen könnte hinter den Häusern sein, die sie nur von einer Seite sah. Da entschied sie, erst einen Fuß und dann den zweiten an Land zu setzen. So lief sie, mit Stirnband, Wanderstab und barfüßig durch die große Stadt.
Sie sah tuschelnde Menschen, sorgenvolle Blicke und ihr wurde immer kälter. Welch ein Glück es war, dass sie alsbald ein paar verlassene Schuhe an einer Häuserecke fand und zur Freude ihres knurrenden Magens hier und dort ein paar Münzen, die sie andere Leute gegen Essen eintauschen sah. Sie lernte schnell und passte sich an, denn sie wollte bei ihrer Suche nach ihrem Hündchen nicht aufgehalten werden. Doch die Suche dauerte an und so kam es, dass sie bei einer Bäckerei eine Anstellung fand, um ihren Hunger für längere Zeit zu stillen und ein Dach über dem Kopf zu haben. Ihr Stirnband und Wanderstab waren längst verloren, aber die Arbeit gefiel ihr, denn sie erfreute sich an den vielen Gesprächen mit den Menschen, welche die Bäckerei besuchten und reichte mit jedem Brot über die Theke auch Herzlichkeit und Lebensfreude. Die Menschen dankten es ihr und sie kamen wieder und wieder.
Die Monate vergingen und es zeigte sich, dass irgendetwas nicht zu stimmen schien. Die einstige Herzensfülle gehörte der Vergangenheit, ebenso wie die Erinnerung an ihren Reisebeginn und damit ihre Mission. Sie lebte von Tag zu Tag, kam gut zurecht und doch trug sie einen Schmerz in sich, der immer größer und schwerer wurde. Eines Tages blickte sie eine alte Frau von der anderen Seite der Theke an, welche tiefe Weisheit aus ihren Lebensjahren schöpfte. Sie bat, dass sich Melissa setze und ihr zuhörte. So ließ sich Melissa auf einen Stuhl im ruhigen Erker der Bäckerei nieder und lauschte den Worten der weisen Frau: „Wo ist dein Herz?“ fragte jene und sobald durchzuckte es Melissa. Es kamen Erinnerungen aus fernen Zeiten und vor ihrem inneren Auge erblickte sie ein Hündchen, ihr Hündchen und ach, sie wollte es doch suchen! Die alte Frau trug ihr auf, ihr Herz wieder zu finden und mit Tränen der Gerührtheit, des Schmerzes und der Leidenschaft, riss sich Melissa ein Stück Stoff von ihrer Bäckerschürze und band es um ihre Stirn. Ein Brotschieber mit langem Holzstiel wurde zu einem neuen Wanderstab und als sie vor die Bäckerei trat, legte sie auch ihre Schuhe ab.
„Wo ist dein Herz?“
Mit halb geschlossenen Augen, ganz auf ihre Intuition vertraut, begann sie zu laufen und da schlug es deutlich: ihr Herz in ihrer Brust. Da war es, präsent und fokussiert und es führte sie geradewegs zum Fluss zurück. Kaum von den flachen grauen Wegen zu unterscheiden, so ruhig und gerade floss er dahin, vertraute sie ihrem Herz und setzte an, in den Fluss zu steigen. Als ihre nackten Füße das Wasser berührten, war, als sei sie nach Hause gekommen. Tränen der Freude, Erschöpfung und Süße rollten über ihre Wangen. Sie tropften geradewegs in den Fluss und als sie sich hier mit dem Flusswasser vereinigten, geschah etwas Wundersames.
Es war fast so, als würde der Fluss lebendig, obwohl er das schon immer war. Doch glitzerte er wieder und plätscherte und es durchdrang ihn ein Gefühl von Weisheit. Es war die innere Kraft des Flusses, die sich immer weiter ausbreitete und die Stadt, ihre Dunkelheit und ihren Schatten immer weiter auflösen ließ. Es dauerte nicht lang und an deren Stelle wehten wieder Gräser im Wind und eine weite Landschaft entstand.
Und da sprang es durch die Felder, ihr Hündchen, noch immer im Spiel versunken und plötzlich hoch erfreut, Melissa zu sehen. Obwohl Jahre vergangen waren, war ihr Hündchen so alt wie eh und je und auch Melissa sah man die lange Zeit in der Stadt nicht mehr an. Verbunden mit der alterslosen Essenz, die ihr Hündchen schon immer war, wanderte sie im Fluss in steter Begleitung ihres treuen Freundes zurück zum Haus ihrer Mutter und grüßte sie: „Mutter, wir sind zurück!“ So leben und spielen sie noch heute am glitzernden Fluss, der alles enthält, was je gewesen war und alles, was je geschehen sollte, von Moment zu Moment, in Ewigkeit.