Blaue Öle sind schon faszinierend. Ich erinnere mich noch an mein eigenes Staunen, als ich das erste blaue Öl in meiner Aromatherapie-Ausbildung kennenlernte – von einer überhaupt nicht blauen Pflanze. Diese Überraschung und Begeisterung trage ich heute weiter in jede Ausbildungsrunde, die ich selber leiten darf. Und wenn ich euch nun erzähle, dass es noch viel mehr dazu zu erfahren gibt? Es gibt nicht nur die Deutsche Kamille und Schafgarbe, die blau machen und auch nicht nur Chamazulen.
Artefakt der Destillation
Man lernt nie aus. Was ich allein in der letzten Woche schon wieder neues übers Destillieren erfahren habe, ist Feuer genug für weitere Forschungen auf dem Gebiet.
Sicher, nicht alle brennen dafür die technischen Kniffligkeiten und Möglichkeiten einer Wasser(dampf)destillation zu ergründen, wenn ganz andere dufte Interessen rufen, doch spätestens, wenn uns blaue Öle begegnen, werden wir alle ein wenig demütig:
Da durchdringt Wasserdampf Kamillenkraut, kondensiert im Kühler und tropft mit blauem Schimmer ins Glas. Sammelt sich so nun einiges an Öl, blicken wir in einen dunkelblauen Spiegel. Faszinierend. Gleich doppelt, weil die Farbe blau in der Natur eher selten ist.
Belohnt wird damit auch nur, wer Geduld erweist. Es braucht 70 Minuten bis das blaue Chamazulen, ein Sesquiterpen, oder besser seine Vorstufe, in Bewegung kommt und mit dem Wasserdampf mitgeht (bei mehr Druck geht’s schneller). Wer die Destille vorher abdreht, wird sich wundern, wo das Blau bleibt.
Das Ganze bleibt ganz – das ist die Devise der Destillation. Es findet eine Übertragung der gesamten Pflanzenkraft in ein neues Medium statt. Beziehungsweise findet sich immer im Teil das Ganze (Fraktaltheorie), denn ätherisches Öl ist ja kein neues Produkt der Pflanze, wir extrahieren es nur. Echte Kamille (Matricaria recutita) ist bekanntermaßen ein entzündungshemmendes Kraut, das für Tees und Aufgüsse gern Anwendung in der Hausapotheke findet. Eines der dafür verantwortlichen Stoffe ist das Matricin (nach der Kamille benannt). Es findet sich im ätherischen Öl der Ausgangspflanze kein entzündungshemmender Stoff. Jedoch strotzt das Kamillenöl in unseren Fläschchen vor entzündungshemmender Kraft. Um das Ganze zu erhalten, muss also in der Transformation der Destillation etwas besonderes geschehen, was wir unter dem Begriff der Artefakte kennen. Durch die Aufnahme in den Wasserdampf und das anschließende Kondensieren gibt es die Chance der Umwandlung. Aus Matricin wird Chamazulen.
Artefakte entstehen nur durch den alchemistischen Prozess der Wasserdampfdestillation. Wird Echte Kamille oder ein anderes Kraut, das uns ein blaues Öl liefern kann, z. B. via superkritischem CO2 extrahiert, bleibt das Öl schwach gelblich und die Bildung von Chamazulen aus.
Chamazulen, der blaue Bekannte
Chamazulen ist ein Trivialname für 7-Ethyl-1,4-dimethylazulen. Es ist ein Kunstwort, zusammengesetzt aus Chamomilla (neben dem botanischen Namen Matricaria recutita gibt es auch das Synonym Matricaria chamomilla für die Echte Kamille), dem französischen Wort für himmelblau, azur, und dem Anhang len, aus Alken. Ein Alken ist ein ungesättigter (hier Doppelbindung) aliphatischer Kohlenwasserstoff.
Chamazulen nimmt nun die ursprüngliche Aufgabe von Matricin ein. Es soll jedoch nur 50 % so entzündungshemmend sein wie Matricin. Dafür haben wir es in konzentrierter Menge im Öl vorliegen. Außerdem ist es wundheilend, beruhigend, antihistaminisch und dadurch antiallergisch. Je dunkler das Öl, desto mehr Chamazulen. Je mehr Chamazulen, umso… hm, wer hat eigentlich am meisten?
Chamazulen, chamazulener, am chamazulensten
Echte Kamille
Die Echte Kamille bzw. Deutsche Kamille nennen wir einzig in der Aromatherapie auch Blaue Kamille. Denn nur wir haben schließlich den blauen Stoff.
Das Öl der Echten Kamille enthält bis zu 35 % Chamazulen.
Aber auch andere Pflanzen warten damit und wiederum sind eher gelbe und weiße Blüten an grünem Kraut das Markenzeichen – nichts ist blau an den Pflanzen.
Schafgarbe
Bekannt sein dürfte noch die Schafgarbe (Achillea millefolium), deren Art-Verwandte uns ebenso mit blauem Öl erfreuen können.
Die Schafgarbe enthält bis 35 % Chamazulen. Aber woran es nun genau liegt, dass mal mehr und mal weniger enthalten ist, ist nicht vollständig geklärt. Das gilt auch für die anderen hier vorgestellten Kräuter: Man weiß, dass die Länge der Destillation und die Anzahl an Blütenmaterial gegenüber Kraut sehr entscheidet. Es braucht zudem 80 – 90 ° C, damit die Umwandlung von Matricin zu Chamazulen klappt. Auch habe ich ein Experiment gefunden, dass durch Säuredüngung während des Pflanzenwachstum zu einer höheren Chamazulenausbeute kommt (hier Echte Kamille). Das macht insofern Sinn, dass in Matricin Säure steckt, welche bei der Umwandlung zu Chamazulen abgespalten wird.
Es heißt, es gäbe in Europa allein von der Achillea millefolium 15 Chemotypen. Dies soll genetisch und klimatisch begründet sein. Im Fall der sizilianischen Schafgarbe kann einiges davon ausgeschlossen werden. Sonnenstunden und das individuelle jährliche Wetter können hier entscheidend sein, aber vielleicht auch Vulkanaktivitäten, die zu verschiedenen Säuregraden des Bodens führen. Es kommt häufiger zu kleineren Eruptionen und Ascheregen durch den Ätna.
Strauch-Beifuß
Strauch-Beifuß, Silber-Wermut, Stabwurz, Beifuß-Bäumchen… viele Trivialnamen trägt Artemisia arborescens hierzulande und geeinigt hat sich die Aromawelt noch lange nicht darauf. Das Öl ist ketonreicher und deshalb von der klassischen Aromatherapie eher gemieden. Es regt sich jedoch viel in der Psycho-Aromatherapie und systemischen Therapie. Strauch-Beifuß enthält bis 40 % Chamazulen. Er kontert mit diesem beruhigenden Stoff die herausfordernde Wirkung des beta-Thujon, das nur etwas weniger darin vorkommt.
Wir lernten es intensiv bei der Aromareise im Mai 2021 auf Pantelleria kennen. Es hat Ähnlichkeiten mit der Immortelle und sogar eine psycho-aromatherapeutische Verbindung mit ihr. Aber der Ort an dem sie wächst, gibt noch ganz andere Rätsel und philosophische Überlegungen auf.
Wo wir bei Artemisia-Gewächsen sind: Artemisia lavandulaefolia, vom Art-Namen her also ein lavendelblättriger Beifuß, ist ebenso reich an Chamazulen. Das Öl enthält gar über 40 % davon. Die Pflanze ist in China beheimatet. Ein Öl davon habe ich noch nicht im Handel gefunden.
Auch Artemisia absinthium, der Wermut, kann Chamazulen enthalten. Manchmal bis fast 7 %, manchmal enthält er aber auch gar keines. (Danke für den Hinweis auf Wermut an Martina Rosner.)
Blauer Rainfarn
In der hiesigen Aromatherapie, sowohl klassisch als auch psycho-aromatherapeutisch, ist der Blaue Rainfarn, Tanacetum annuum, sehr unbekannt. Amerikanische Multi-Level-Marketing-Firmen verkaufen das Öl seit Jahren und so wird es vor allem in jenen Kreisen genutzt. Auch der Blaue Rainfarn wird erst durch die Wasserdampfdestillation blau und sieht sonst unserem hiesigen Feld-und-Wiesen-Rainfarn (Tanacetum vulgare) mit seinen gelben Knopfblüten sehr ähnlich. Im Gegensatz zu ihm, ist der Blaue Rainfarn aber sehr hautverträglich.
(Noch) Nicht im Handel
Weitere Öle enthalten Chamazulen:
- Waldheimia glabra (9,9 % Chamazulen): Eine Pflanze im tibetischen Hochland auf 5.200 m, die traditionell gegen Influenza eigensetzt wird.
- Stevia serrata (60,1 % Chamazulen): Was für ein Gehalt! Verwandt mit der bekannten Süß-Stevia Steviarebaudiana kann auch diese Stevia-Pflanze als Süßungsmittel genutzt werden. Oder eben destilliert. Ihre Heimat ist Guatemala und weitere Südamerika (jetzt habe ich doch glatt Süßamerika geschrieben…)
- Gargano-Purgierdolde, Thapsia garganica (49,2 % Chamazulen, 18,5 % 1,4-Dimethylazulen): Im Mittelmeerraum wächst dieser bis 2,5 Meter hoch wachsende Doldenblütler, der ein bisschen an Angelika mit Beifußblättern erinnert. Volksheilkundlich purgierend angewendet (löst Erbrechen aus), isoliert die moderne Medizin daraus ein Krebsmedikament (Thapsigargin). Neben 50 % Chamazulen findet sich hier auch noch eine blaue Schwesterverbindung mit weiteren fast 20 %.
Familie Blau – Geschwister von Chamazulen
Tatsächlich ist Chamazulen in Gesellschaft. Wie schon bei der Gargano-Purgierdolde festgestellt, gibt es noch weitere Verbindungen, die blau sind.
1,4-Dimethylazulen
Der Stoff aus der Gargano-Purgierdolde (Thapsia garganica) findet sich auch in ihrer verwandten Thapsia villosa. Plagiochila bursata, im englischen Argentische Leberwurz genannt sowie Calypogeia granulata, eine Lebermoos-Art, konnte ich als weitere Pflanzen dafür ausfindig machen. Ein Öl im Handel kenne ich von keiner dieser Pflanzen.
Guajazulen
7-Isopropyl-1,4-dimethylazulen, also nur mit einer weiteren Isopropylgruppe versehen, ist schon wieder bekannter. Dieser Stoff ist im Labor leichter zu gewinnen als Chamazulen (z. B. aus dem häufig vorhandenen Caryophyllen) und wird daher lieber als jener in Medizin- und Kosmetikprodukten eingesetzt.
»Medizinisch kommt es sowohl innerlich zur Anwendung, gegen Entzündungen im Magen-Darm-Trakt, der Atemwege oder der Haut, als auch äußerlich, bei Hautenzündungen oder Sonnenbrand.« (wikipedia)
Guajak oder das andere Palo Santo
Gebildet wird Guajazulen aus Guajol, das in großer Zahl in Bulnesia sarmentoi vorkommt. Dies ist ein südamerikanischer Baum, dessen Öl auch unter dem Namen Palo Santo verkauft wird (nicht zu verwechseln mit dem sonsthin gemeinten Palo Santo Bursera graveolens) und das im II. Appendix des CITES Abkommens gelistet ist. Ebenso als Guajak bezeichnet, ist der Baum klarer Namensgeber dieses blauen Inhaltsstoffes. Der Bestand ist bedroht und der Handel streng kontrolliert. Man sollte hier auf andere Öle ausweichen. Ich konnte nirgends finden, dass sich Guajazulen selbst im ätherischen Öl von Guajakholz findet, sondern immer nur seine Vorstufe Guajol. Da ich aus Nachhaltigkeitsgründen das Öl selbst noch nicht bezogen habe, kann ich das aber nicht bestätigen. Spannend ist es allemal, dass der Namensgeber selbst den Stoff nicht im destillierten Öl enthält.
Südafrika-Strohblume
Es gibt eine überraschende Quelle des blauen Guajazulen in einem Kraut aus Südafrika – aus der Südafrika-Strohblume, Helichrysum splendidum. Zumeist begegnet uns die Italienische Immortelle, Helichrysum italicum, und diese ist ganz und gar nicht blau. Wohl kennt sie sich mit blauen Flecken aus, die sie aufzulösen vermag (und was sich die Wissenschaft bis heute nicht erklären kann). Helichrysum splendidum enthält in einer Analyse 0,42 % Guajazulen und färbt das Öl dadurch schon blau. Der Gehalt ist allerdings so gering, dass hier natürliche Schwankungen ganz schnell dazu führen, dass noch weniger oder gar kein Guajazulen mehr enthalten ist. Dann ist das Öl auch nicht mehr bläulich. Das ätherische Öl der Südafrika-Strohblume ist übrigens für seine starke entzündungshemmende Kraft bei rheumatischen Erkrankungen bekannt. Sie rührt aber auch vom Hauptinhaltsstoff beta-Phellandren.
Sumpfporst – Samenöl
Rhododendron tomentosum oder im Synonym in der Aromawelt bekannter unter Ledum palustre ist ein ätherisches Öl, das vor allem in der medizinischen Aromatherapie schon wesentlich bekannter war. Damals wurde es hauptsächlich unter dem Namen Ledum geführt. In Multi-Level-Marketing-Kreisen lebt es noch auf, wobei hier auf den Grönlandporst (Ledum groenlandicum) zurückgegriffen wird, der sich nicht ganz mit Sumpfporst vergleichen lässt. Beide Öle gibt es übrigens bei Maienfelser. Das Öl ist nicht blau, was an den verwendeten Pflanzenteilen liegt. Würde man nur die Samen des Sumpfporsts destillieren, würde man aber auch etwas Guajazulen gewinnen, wie es eine Studie zeigt.
Rosengeranie
Echt jetzt? Ja! Pelargonium graveolens enthält in Spuren Guajazulen, das sich mit der leichten zusätzlichen Gelbfärbung wie das wunderschönste Türkis-Meeresblau färbt, das man sich nur vorstellen kann. Ines von Soleone Pantelleria hat es in einem Jahr geschafft, als die Rosengeranie so richtig in ihrer Kraft schien und sie gerade von Julia Karpova (sieht oben) hörte, dass ihre Rosengeraniendestillation türkise Farbe hervorbrachte. Ausprobiert und bingo. Und weil es sooo schön war, wurde gleich am nächsten Tag noch einmal, ganz genauso und von den selben Pflanzen destilliert. Die Sonne schien genauso schön, aber Pustekuchen, das Türkis blieb aus. Woran die Guajazulen-Ausbeute lag, ist bis heute ein Mysterium. Mittlerweile sind mir einige Destillationen bekannt, die sogar ein noch viel tieferes Türkisblau bei Rosengeranie hervorbringen. Eine Rarität ist es also nicht, nur ein ungelöstes Rätsel. Und ein ganz besonders gut riechendes noch dazu.
Australian Blue Cypress
Auf Callitris intratropica bin ich durch Jutta Stein aufmerksam geworden. In Australien ist das Öl und dessen blaue Farbe wohl bekannt, wo der Baum an der Nordküste wächst. Das Öl wird in einem bis 48 Stunden dauernden Destillationsprozess gewonnen. Die Auswahl der Pflanzenteile ist auch hier entscheidend: Es wird Kernholz, Splintholz und Rinde zusammen destilliert, um im Öl Guajazulen und wohl auch Chamazulen zu enthalten. Ich fand eine Studie, die sogar auf einem Bild das tiefe Blau des Öls zeigt und gleichzeitig in der dazugehörigen Analyse nur Spuren von Guajazulen und 0,1 % Chamazulen angegeben sind. Etwas unglaublich. Wird ausschließlich das Kernholz destilliert, bleibt das Öl hell transparent. Wer mehr über das Öl erfahren will, kann sich in einem englischsprachigen Artikel einlesen. Beachtet, dass Öle, die aus Kernholz und Rinde gewonnen werden, die Fällung von Bäumen bedeutet. Auch eine so lange Destillationsdauer hat Folgen: Eine hohe Energieaufwendung.
Die Blauen Wunder in der Aromatherapie
Blaue Öle bleiben faszinierend. Wann immer ein Entzündungsgeschehen im Körper vor sich geht, dürfen wir an sie denken. Während die Echte oder eben Blaue Kamille gut bei Hautgeschehen und Ohrenentzündungen ist, zieht die Schafgarbe mit ihrem schwankenden Thujongehalt schon in tiefere vor allem gynäkologische und rheumatische Gefilde. Noch tiefer setzt vielleicht der Strauch-Beifuß an, der sich in Öldispersionsbädern hervorragend bei systemischen Entzündungen wie Autoimmunerkrankungen macht. Die Südafrika-Strohblume darf hierzulande noch entdeckt werden und ist ebenso eher im Bewegungsapparat, aber auch Atemtrakt wirksam. Und wie wir an diesem Artikel sehen können, gibt es wirklich noch einige Öle zu entdecken – oder lieber in der Natur zu belassen.
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